Wie aus Maria Maria wurde
Eine lange Geschichte, kurz erzählt
von Prof. Dr. Ralf Frisch
Die Villa Maria von Bethlehem
Eigentlich beginnt die Geschichte der Villa Maria im Stall von Bethlehem. Oder anders gesagt: der Stall von Bethlehem ist die Villa Maria. Jedenfalls dann, wenn man der Erzählung des Lukasevangeliums folgt. Dort heisst es, dass die junge Frau und ihr Mann sonst keinen Raum in der Herberge hatten. Also kam der Heiland der Welt an einem Ort zur Welt, wo Ochs und Esel aus der Krippe fressen. Diese Krippe wurde zur Wiege des kleinen Gottessohns. In der Ge-schichte der Kunst und natürlich auch in der Geschichte des Kitschs gibt es unzählige Darstellungen dieser Szenerie. Fast jede dieser Darstellungen umweht ein Hauch von Armseligkeit und Romantik, von Ausgrenzung und Erwähltheit, von Elend und von Adel. „Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar“, dichtete Friedrich Schiller. Die Weihnachtsgeschichte weiss, dass in der kleinsten Hütte sogar Platz für den Schöpfer aller Dinge ist. Und der Blick durch zweitausend Jahre Christentumsgeschichte hindurch zurück an die Wiege des Christkinds zeigt, was aus den beiden wurde – aus der Mutter und ihrem Säugling. Der eine brachte es in der christlichen Kirche bis zu Gott selbst. Die andere brachte es bis zur Mutter Gottes. Es sind zweifellos zwei erstaunliche, ziemlich steile Karrieren, die der Story des unbekannten Evangelisten zufolge in einem für Menschen gar nicht bestimmten Unterschlupf begannen.
Das Geheimnis der Rindviecher
Aber vielleicht ist das gerade die Pointe der Geschichte. Das göttliche Kind ist sich nicht zu fein für die Gesellschaft der Rindviecher. Und wo anders als mitten unter den Rindviechern sollte, wenn wir letztlich alle Rindviecher sind, der Erlöser des Rindviechs Mensch zur Welt kommen. Es gibt übrigens auch noch eine andere Pointe. Im Alten Testament, beim Propheten Jesaja, heisst es: „Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn, aber mein Volk kennt es nicht.“ Kein Wunder daher, dass es den kleinen Messias zu den Tieren zieht. Sie scheinen geradezu die besseren Menschen zu sein.
Doch sei es, wie es sei: dass das Christkind mitten in der Welt zur Welt kam, macht die Welt und mit ihr die Villa Maria von Bethlehem zu einer sehr besonderen und zu einer sehr symbolischen Stätte. Bedenken Sie also, liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie in der Villa Maria logieren, an was für einem Ort Sie hier sind und welche Stunde an diesem Ort schlägt. Es ist ein Ort, an dem eigentlich immer Weihnachten ist – auch und gerade dann, wenn es in Ihnen selbst vielleicht nicht so aussieht – ebenso wenig wie in Maria und Josef seinerzeit in der Wehennacht, die zur Weihnacht wurde. Die Eltern des Erlösers müssen die Herberge der Villa Maria damals als unverhofftes und unerwartetes Geschenk des Himmels empfunden haben. Eigentlich kann man sich an einem solchen Ort nur wohlfühlen. Weil es ein Zufluchtsort und ein Rettungsort ist. Ein gesegneter Ort geradezu. Ein Gnaden- und ein Kraftort. Ein Ort, an dem man getrost sein und alles ablegen kann, was einen wurmt, quält und beschwert. Ein Ort, an dem man durchschnaufen, aufatmen und seufzen kann: „Dem Himmel (oder Gott) sei Dank!“ Oder eben: „Hier ist es wie Weihnachten!“ Auch, wenn gerade Frühling, Sommer oder Herbst ist. Ich könnte mir vorstellen, dass auch diejenigen, bei denen Sie Herberge gefunden haben, ziemlich glücklich wären, wenn Sie so etwas sagen würden.
Gynäkologie und Mythologie
Mit der Geburt Jesu in jener Erzählung des Evangelisten Lukas ist aber natürlich weder die Geschichte Jesu noch die Geschichte der Maria schon zu Ende. Sie beginnt erst. Der jungen galiläischen Frau sollten im Zuge der nächsten beiden Jahrtausende noch einige spektakuläre Verwandlungen bevorstehen. Aus der Mutter des kleinen Jeschua wurde der Inbegriff des von Gott mit einem grossen Privileg beschenkten Menschen. Sie durfte seinen Sohn zur Welt bringen. Ihre Jungfräulichkeit verlor sie weder durch dessen Zeugung noch durch dessen Geburt. Das leiteten die Kirchenväter unter anderem aus der griechischen Übersetzung von Jesaja 7 Vers 14 ab, dem Text, der schon vom Evangelisten Matthäus auf die Mutter Jesu gemünzt wurde. Im hebräischen Ursprungstext ist von einer jungen Frau die Rede, die schwanger wird und einen Sohn gebiert. In der griechischen Version, aus der sich der griechisch schreibende Matthäus offensichtlich bedient hat, wird daraus eine Jungfrau. Tja. So kann es gehen.
In den Augen der römisch-katholischen Theologie blieb Maria auch nach der Geburt Jesu Jungfrau. Bis ins Grab. Oder vielmehr bis zu ihrer leiblichen Aufnahme in den Himmel. Gynäkologisch gesehen wird es in diesem Zusammenhang etwas kompliziert. Es ist also ratsam, das Ganze mythologisch aufzufassen, das heisst im Sinne einer tieferen Wahrheit. Die Entscheidung, ob das, was in der Biologie, nicht aber in der Theologie unmöglich ist, trotzdem wahr sein kann, überlasse ich Ihnen, liebe Gäste der Villa Maria. Ist der Mythos der begnadeten Jungfrau Maria, die vom Heiligen Geist schwanger wird, ohne dass zu diesem Zweck im Gegensatz zu vielen antiken Mythen ein brünftiger Zeusstier oder irgendein anderes Mannsbild mehr oder weniger gewaltsam mit ihr schlafen muss, zu schön, um wahr zu sein? Oder ist die Geschichte von Mariä Empfängnis zu schön, um nicht wahr sein zu können?
Die junge Frau avancierte von der Wiege der Geschichte des christlichen Glaubens an aber nicht nur zur Jungfrau voller Gnaden. Sie avancierte auch zu einer reinen, unschuldigen, sündlosen und heiligen Gestalt. Aus ihr wurde jemand, den man aufgrund seiner oder besser gesagt ihrer makellosen Autorität bitten kann, bei Gott ein gutes Wort für einen selbst einzulegen. Und aus ihr wurde noch etwas viel Unerhörteres, nämlich Mutter Gottes, die Königin des Himmels und der Erde, also nichts Geringeres als eine Gottheit. Aus Maria wurde geradezu die vierte Person der göttlichen Dreieinigkeit – jedenfalls im römischen Katholizismus.
Unter den Brüsten der Artemis von Ephesos
Ein Meilenstein in der Himmelfahrtskarriere der sich vielfach verwandelnden Maria war übrigens das Jahr 431 nach Christus. In diesem Jahr fand in der kleinasiatischen Stadt Ephesos ein berühmtes Konzil, also eine Versammlung christlicher Bischöfe, Geistlicher und Gelehrter statt. Bei diesem Konzil stritt man über eine aus abgeklärter aufgeklärter Sicht gesehen reichlich bizarre Frage – um die Frage nämlich, ob man Maria, die Mutter Jesu, als Gottesgebärerin bezeichnen dürfe oder gar müsse. Schliesslich, so sagten die Einen, die sich am Ende durch-setzten, habe Maria ja den Gottessohn zur Welt gebracht. Und wenn dieser Gottessohn wesenseins mit dem Vater, also gottgleich war, dann konnte auch dessen Mutter nicht einfach nur unspektakulär als Mutter Jesu bezeichnet werden. Sie musste vielmehr Mutter Gottes, also Gottesgebärerin genannt werden. Die Konzilsväter verfielen auf diese Idee auch unter dem Eindruck eines der sieben Weltwunder der Antike, das offenkundig ihre Sinne überwältigte. In Ephesus nämlich trafen die junge Frau aus dem Neuen Testament und die Bischöfe der Alten Kirche auf den Tempel der Artemis. Bei der Synode von Ephesos kam also einiges zusammen. Und auch in der üppigen Figur der Göttin Artemis kam einiges zusammen. Denn die antike Artemis war nicht nur eine imponierende, sondern eine ziemlich schillernde, um nicht zu sa-gen vielseitige Göttin. Von den Griechen wurde sie als jungfräuliche und keusche Gottheit der Jagd, des Waldes, der Geburt, des Mondes sowie als Hüterin der Frauen und Kinder verehrt. In Anatolien galt sie als Muttergöttin, also gewissermassen als Inbegriff von Fruchtbarkeit, Für-sorge und Obhut. Der Oberkörper der Artemisstatue von Ephesos, die ein bisschen so aus-sieht, als sei sie eine Skulptur von Louise Bourgeois, ist bedeckt mit Brüsten, von denen man-che sagen, dass es auch Stierhoden sein könnten. Worum es sich wirklich handelt, weiss man ehrlich gesagt nicht so genau. Wenn es Brüste sind, dann stehen sie der Artemis jedenfalls auch deshalb gut, weil sie dadurch noch deutlicher als Ernährerin aller Lebewesen und als Mutter allen Lebens in Erscheinung treten würde. Wie es die klugen Kirchenväter, die sich im Jahr 431 in Ephesos versammelten, mit der Sexualität hielten, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber eines scheint klar: ihnen dürften angesichts von so vielen unterschiedlichen Frauen- und Marienbildern in ihren Köpfen die Augen übergegangen sein.
Der Aufstieg zur Himmelskönigin
So richtig gut passte die in den ersten christlichen Gemeinden als Autorität und irgendwann auch als Heilige verehrte Maria, die in der späteren christlichen Bild-, Denk- und Glaubenswelt so ziemlich aller sexuellen, erotischen und mütterlichen Attribute beraubt ist, ja nicht zur sinnlichen Göttin, um nicht zu sagen Sexbombe von Ephesos. Aber vielleicht eben ja doch. Oder anders gesagt: die christlichen Konzilsväter entwickelten den Ehrgeiz, die heidnische Artemis christlich in den Schatten zu stellen und gewissermassen alt aussehen zu lassen. Und so kam es dazu, dass der Mutter Jesu, die nach und nach durch die Mariendogmen der immerwährenden Jungfräulichkeit, der unbefleckten Empfängnis, also der Sündlosigkeit, der Aufnahme in den Himmel und eben der Gottesmutterschaft, auf immer höhere Sockel gestellt wurde, auch noch die Artemis von Ephesos sozusagen einverleibt, Maria also mit der Artemis „gekreuzt“ wurde. Heraus kam dabei eine neue christliche Gottheit, die den Herren und vielleicht auch den Frauen der Alten Kirche salopp gesagt wie gerufen kam. Und zwar deshalb, weil im christlichen Glauben und in der christlichen Lehre der Dreieinigkeit Gottes das weibliche Element sehr unterrepräsentiert, um nicht zu sagen nicht wirklich vorhanden war. Und vielleicht auch deshalb, weil der unter den Rindviechern geborene Säugling von Bethlehem, der Sohn Josefs des Zimmermanns und seiner Frau Maria, den Gläubigen durch seine schwindelerregende theologische Beförderung zum wahren Gott, zur zweiten Person der Dreieinigkeit und zum Allherrscher über den Kosmos immer ferner zu rücken begann. Maria schien demgegenüber menschlich nahbarer, zugänglicher und weniger entrückt. Sie wirkte irgendwie sympathischer, empathischer und freundlicher. Dass sie durch ihren kometenhaften Aufstieg zur Mutter Gottes und zur Himmelskönigin der Christen dann ebenso entrückt wurde wie ihr Sohn und wie Gottvater, steht auf einem anderen Blatt.
Die vergessene Gemahlin Gottes
Apropos Himmelskönigin. Es gibt archäologische Funde auf der Sinaihalbinsel, die die Vermutung nahelegen, der schlechthin einzigartige, streng monotheistisch und bildlos verehrte Gott JHWH des Alten Testaments sei in den Augen manch alter Israeliten so einsam gar nicht gewesen. Es könnte nämlich sein, dass gemeinsam mit ihm auch eine JHWH-Ehefrau namens Aschera angebetet wurde. Von Aschera, der sogenannten Himmelskönigin, die eigentlich eine syrisch-kanaanäische Meeresgöttin sumerischen Ursprungs ist, findet sich in der hebräischen Bibel allerdings kaum mehr eine Spur und schon gar keine wohlwollende Erwähnung. Im Gegenteil. Aschera ereilte aufgrund ihrer Gefährdung des strengen Eingottglaubens der Israeliten das Schicksal der damnatio memoriae, der Austilgung aus dem kulturellen Gedächtnis des Judentums. Ins Christentum dagegen wurde sie in Gestalt der Maria heimgeholt. Vor allem in der Bilder- und Skulpturenwelt des Katholizismus finden sich zahllose Spuren der Himmelskönigin Aschera. In München etwa steht nicht nur ein Hofbräuhaus, sondern auch eine gülden leuchtende Mariensäule auf dem gleichnamigen Marienplatz im Herzen der Altstadt. Und es ist kein Wunder, dass das, was derart erhaben und strahlkräftig mit Sternenkranz, Krone und Szepter und dem kaum sichtbaren Jesuskind auf dem Arm auf einer Mondsichel steht, als Herrin der Welt irgendwann inbrünstiger angebetet wird als der, den sie zur Welt bringt.
Nächtliche Einschlafhilfen
Ich mache an dieser Stelle der Geschichte der Maria einen Punkt oder besser gesagt ein Komma und ziehe im Blick auf die Villa Maria ein kleines Fazit. Am Ende ist Maria beides: sie ist diejenige, die in der Villa Maria von Bethlehem Zuflucht findet und der unversehens die unverfügbare göttliche Gnade zuteil wird, den Sohn des ewigen Vaters zur Welt zu bringen. Und sie ist diejenige, bei der die Gläubigen Zuflucht finden können, wenn sie von Nöten heimgesucht werden. Vielleicht ist Maria auch diejenige, der Sie, liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie in der Villa Maria logieren, ein nächtliches Stossgebet zuschicken, wenn Sie in den Dunkelheiten der Welt und des mitunter wenig weihnachtlichen Lebens nicht mehr weiter wissen. Und natürlich hoffe ich, dass sich Ihr Leben so zum Happy End fügt wie das Leben der Maria, die unter dem Stern von Bethlehem zum Star wurde!
Maria Mutter Erde?
Ein allerletzter Gedanke noch. Zumal in einer ökologisch immer sensibler werdenden Welt ist es eigentlich nur noch ein kleiner Weg von der Verehrung der Muttergottes zur Verehrung der Mutter Erde. Augenzwinkernd, aber keineswegs nur ironisch gesagt ist daher zu erwarten, dass die nächste Verwandlung der Maria in Bälde ansteht. So, wie sie vor mehr als anderthalb Jahrtausenden eine so unwillkürliche wie unvermeidliche Verbindung mit der Artemis von Ephesos einging, könnte sie in Kürze zur Gaia, also zum religionsüberschreitenden Synonym für Mutter Natur, der Hervorbringerin allen Lebens und am Ende weniger Himmels- als viel-mehr Erdkönigin und Erdgottheit werden. So gesehen wäre dann die Villa Maria unser so mütterliches wie gefährdetes Haus der Erde selbst, die einzige Herberge, die wir in dieser Welt haben. Und so, wie sie, Mutter Erde, uns entstehen lässt, hervorbringt und Obdach bietet im unwirtlichen All, könnte es an uns sein, sie, Maria, vor den Unwirtlichkeiten der Weltnacht und vor dem Ungeheuer Mensch zu schützen und in Sicherheit zu bringen. – Ob uns das gelingen wird? Die Villa Maria ist in jedem Fall ein guter Ort, um darüber nachzudenken. Aber bitte so, dass es Ihnen nicht den Schlaf und die Freude an Ihrem Aufenthalt in Mariens Schoss raubt ;-)
Prof. Dr. Ralf Frisch
lehrt Theologie und Philosophie
an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.